Plastik und kein Ende

(Gastbeitrag von Marianne Reiß)

Auf unseren Ozeanen treiben 140 Millionen Tonnen Plastikmüll herum. Das ist ein ganzer Kontinent. Das soll nun politisch angegangen werden. Das EU-Parlament hat sich Mitte Oktober 2018 für ein Verbot von Wegwerfartikeln ausgesprochen. Plastikteller, Plastikbesteck, beschichtete Becher, Trinkhalme oder Rührstäbchen sollen schon bald aus unserem Leben verschwinden.

Es ist schon erstaunlich, wie lange es gebraucht hat, bis dieses Problem in unseren Köpfen angekommen ist. Plastik und besonders seine Weichmacher werden seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Vor genau 45 Jahren war es das Thema meiner Diplomarbeit. Damals ging es noch nicht darum, dass wir unseren Planeten mit den nicht abbaubaren Produkten unserer bequemen Wegwerfgesellschaft endgültig zumüllen. Es ging um die schockierende Erkenntnis, dass die in Plastikprodukten und Farben enthaltenen Weichmacher am anderen Ende der Welt gefunden wurden. Vor diesem „Sündenfall“ war die Wissenschaft davon überzeugt, dass Plastik – weil nicht abbaubar – seine Inhaltsstoffe nicht an die Umwelt abgeben könne. Und doch fand man mit den Weichmachern diese technischen Hilfsstoffe aus der Plastikproduktion in den Körpern arktischer Raubvögel. Das Besorgniserregende war nicht allein die Tatsache, dass das, was wir vor unseren Haustüren entsorgen, so weit weg wiederauftaucht. Arktische Raubvogeleltern hatten damit begonnen, ihre Nachkommen aufzufressen. Man vermutete, dass der Kannibalismus der gefiederten Zweifüßer der damals bereits bekannten hormonellen Wirkung von Weichmachern geschuldet war. Offenbar hatte dieser „Kollateralschaden“ das genetische Programm der Arktisvögel durcheinandergebracht.

Doch wer – außer ein paar Freaks – hat sich Mitte des letzten Jahrhunderts schon um die Fortpflanzungsprobleme bei Seeadlern und Kormoranen kümmern wollen. Die Politik jedenfalls nicht. Sie wandte sich damals mit der höflichen Bitte an die Hersteller, mit Selbstbeschränkungen und Produktionsverbesserungen für Abhilfe zu sorgen.

Der Aufreger von heute ist weniger der sichtbare Plastikmüll, der auf den Meeresspiegeln schwimmt und an unseren Stränden angeschwemmt wird. Österreichische Forscher haben kürzlich Mikroplastik in menschlichen Stuhlproben nachgewiesen. Viele Kunststoffe verrotten nicht, auch nicht nach Jahrzehnten. Sie zerfallen in immer kleinere Teilchen, die dann als Mikroplastik gelöst in tiefere Meeresschichten gelangen und von dort ihren Weg über die Nahrungskette auf unsere Teller finden. Dass jetzt darüber nachgedacht wird, ob wir das Zeug wohl im Zuge der Verdauung in unseren Stoffwechsel aufnehmen, ist eine Frage, die keineswegs so neu ist, wie sie zurzeit kolportiert wird.

Muss eigentlich – besonders wenn es um wirtschaftliche Interessen geht – das Rad ständig neu erfunden werden? Erinnern Sie sich an den Skandal um Bisphenol A in Babyfläschchen und Wasserflaschen aus Plastik, der vor einigen Jahren die Gemüter erregt hat? Bisphenol A ist ein Weichmacher mit östrogener Wirksamkeit und stört die Fortpflanzungsfähigkeit nicht nur von Frauen. Es verstärkt die Wirkung von Östrogen und wird als Auslöser von Übergewicht, Diabetes, verfrüht einsetzender Pubertät und schwellendem Brustansatz bei Männern gehandelt. Professor Karin Michels forscht bereits seit Jahren an Bisphenol A – erst an der Uni Harvard und jetzt in Freiburg. Bei unzähligen Urinproben konnte sie nachweisen, dass besonders Liebhaber von Konservenkost verstärkt davon betroffen sind. Im Gegensatz zu den Bestandteilen des Stuhls sind die des Urins bereits durch den Stoffwechsel durchgeschleust und von den Nieren ausscheidungsfähig gemacht worden.

Seit 2011 ist Bisphenol A in Babyflaschen verboten. Die öffentliche Aufmerksamkeit hat dafür gesorgt, dass es auch aus den meisten Plastikflaschen verschwunden ist. Viele Hersteller wichen freiwillig auf andere Stoffe aus, z. B. auf das chemisch verwandte Fluoren-9-Bisphenol. Doch kürzlich hat auch dieser Ersatzstoff seine Unschuld verloren. Chinesische und japanische Wissenschaftler fanden heraus, dass Fluoren-9-Bisphenol die gegenteilige Wirkung von Bisphenol A hat. Es vermindert die Östrogenwirkung, was – zumindest bei den Labormäusen – unerwünschte Folgen hat. Die untersuchten Mäusedamen haben kleinere Gebärmütter und weniger Nachwuchs. Die Mäusekinder, die es auf die Welt schaffen, haben ein geringeres Geburtsgewicht. Die Erkenntnisse reichen zwar nicht aus, um auf den Menschen übertragen zu werden. Die Forscher raten jedoch, vorsorglich sämtliche Ersatzstoffe für Bisphenol A auf ihre Anti-Östrogen-Wirkung zu testen.

Seit Anfang 2017 befindet sich Bisphenol A auf der EU-Liste der gefährlichsten Chemikalien. Die EU bescheinigt der Substanz, „ein hormonell wirksamer Stoff mit möglicherweise gravierenden Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit“ zu sein, deren Folgen „dauerhaft und unumkehrbar“ seien. Bereits 2016 sollte die Chemikalie in Lebensmittelverpackungen verboten werden. Das ist nicht geschehen. Was jedoch nicht heißt, dass das EU-Parlament diesbezüglich untätig bleiben wird. Es wird erwogen, die jetzigen Grenzwerte für Bisphenol A zu senken. Das kommt der Plastikindustrie sehr entgegen. Ein Narr, der Böses dabei denkt. Auch das Bundesamt für Risikobewertung gibt Entwarnung. Die bisher gefundenen Werte seien weit unterhalb der erlaubten Grenze und daher gesundheitlich unbedenklich.

Wenn sogar die amtlichen Risikobewerter keine Gefahr sehen, könnten wir uns ja beruhigt zurücklehnen. Dumm nur, dass Hormone und hormonähnliche Stoffe bereits in kleinsten Mengen wirken. Die scheren sich nämlich nicht um Grenzwerte.

 

*Mit freundlicher Erlaubnis der Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FET) e.V. 

>>> Gastbeitrag von: Marianne Reiß

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